egal was

26.11.2015

Sabine Wollner war nie besonders glücklich, aber auch nie besonders unglücklich gewesen. Sie strebt nicht nach Glück, so wie es viele andere tun. Im allgemeinen geht es ihr jedoch gut.

An einem wunderschönen Frühlingsmorgen - die Sonne schien und die Vögel zwitscherten - traf das Schicksal auf Sabine: ihr Mann verschwand und - fast unnötig zu erwähnen - tauchte nie wieder auf. Natürlich bemerkte sie nicht sofort, dass etwas nicht stimmte. Er wollte nur kurz zum Kiosk um die Ecke gehen, um zwei Packungen Marlboro zu holen (eine Packung Light für sie). Sie saß auf der Terrasse und las Zeitung. Als ihr Mann nach zehn Minuten noch nicht zurück war, nahm sie an, dass er auf einen Abstecher zum Globetrotter Shop unterwegs war.

Nach einer guten Stunde beschloss Sabine, den Einkauf vorzuziehen und beim Kiosk vorbeizuschauen. Dort bestätigte Mehmet, dass ihr Mann die Zigaretten gekauft habe und dann in Richtung City weitergegangen sei. Sabine stieg in den nächsten Bus, um im Globetrotter nachzusehen. Doch dort war er nicht gewesen.

Zuhause fing Sabine an, sich Gedanken zu machen. Später bereitete sie wie immer ein Mittagessen für zwei vor. Nach einer Stunde wärmte sie das abgekühlte Essen auf und aß ihren Teil. Dann packte sie das Essen für ihren Mann in den Kühlschrank für abends.

Am Abend sah sie sich den Tatort an und wartete auf ihren Mann. Nebenbei stöberte sie in der Zeitschrift "Welt der Frau". Dabei stieß sie auf einen Artikel, in dem behauptet wurde, dass Männer immer beim Zigarettenholen verschwinden. Wenn sie bisher mit Behagen und oft auch mit Abscheu darüber las, was da draußen alles passiert, war es nun ganz anders. Denn was sie las, war jetzt ihr passiert. Ausgerechnet ihr! In ihrem Bekanntenkreis war auch schon einiges passiert, doch nie war ein Mensch verschwunden!

Sabine beschloss, die Angelegenheit zu überschlafen. Kurz vor dem Einschlafen schlich sich der Gedanke ein, es könnte eine andere Frau im Spiel sein. Doch dann drehte sie sich seufzend um. Ihr Mann hatte sich noch nie für Frauen interessiert.

Der nächste Tag verging, ohne dass der Mann auftauchte. Ihre Aufgaben für diesen Tag hatte sie alle erledigt - Unkraut zupfen in ihrem weitläufigen Garten, Wäsche waschen und aufhängen, Kaffee kochen, Emails checken, in der Agentur anrufen (Sabine arbeitet als freiberufliche Mediengestalterin), Eintopf zubereiten, Saugen, Kaffee kochen, Zeitung lesen, zu Rewe fahren, dort Drogerieartikel kaufen, aufräumen, Kaffee kochen, Abendnachrichten gucken, Abendessen zubereiten (Hüttenkäse und Salat), Wein bereitstellen - als sich die Sorge in ihr ausbreitete, sie könnte von nun an allein sein.

Da es an diesem Abend keinen Tatort zu sehen gab, fiel Fernsehen praktisch aus, so dass Sabine in einem spontanen Einfall das Telephon zur Hand nahm und Dagmar anrief.

Dagmar mit Lichtstrahl

Dagmar ist eine erfahrene Astrologin. Ihre Spezialität sind Prophezeiungen. Sie ist eine anerkannte Kennerin der Zukunft und besitzt das Talent, ihre Mitmenschen umfassend und detailliert auf deren Schicksale vorzubereiten. Sabine hatte sie zufällig bei einer Demonstration für die Rechte verlassener Frauen kennengelernt (was für ein Omen!). Sie waren danach zum Griechen essen gegangen. Weitere Treffen, meist bei Sabine, festigten ihre Freundschaft.

"Ich grüße dich, meine liebe Sabine", sagte Dagmar, kaum dass sie den Hörer von der Gabel genommen hatte. (Sie lebt in der Vergangenheit mit urtümlichem Telephon und in der Zukunft zugleich). Sabine hielt sich nicht lange auf und schilderte in kurzen Worten ihr derzeitiges Schicksal, geprägt vom Verschwinden ihres Mannes. Am Ende gab es eine Pause. Sie hörte, wie Dagmar tief Luft holte. "Weißt du was - ich komme zu dir und wir besprechen alles in Ruhe". Kurz bevor sie auflegte, kündigte sie noch an, nicht nur ihre Karten, sondern diesmal ausnahmsweise auch ihren Lichtstrahl mitzubringen.

Dagmar trat ein und die beiden begrüßten sich mit einer herzlichen Umarmung. Sabine hatte zwei Gläschen Portwein auf den Tisch gestellt. Dagmar legte geschwind ihre Karten daneben, "Das Universum" obenauf. Sie forderte Sabine auf, noch einmal ganz genau die Details des Verschwindens zu schildern, während sie die Karten erst mischte und dann auslegte. Der Bedeutung der Situation - ein Mensch war verschwunden - entsprechend legte Dagmar mit geübten Bewegungen gleich zehn Karten aus, angeordnet als keltisches Kreuz. Am oberen Ende das Ergebnis, doch das wollte sie zunächst nicht deuten.

Die Liebenden sind nicht dabei

Sabine betrachtete angespannt die Karten und nahm einen Schluck Portwein. Dagmar lächelte begütigend und legte ihre Hand auf Sabines Schulter. "Ich sehe schon einiges", begann sie. "Ich sehe allerdings keine Liebenden. Das bedeutet, dass dein Mann keine neue Liebschaft eingegangen ist". Sabine seufzte zufrieden. "Aber... hier gibt es ein Problem". Dagmar deutete auf eine Karte im Mittelabschnitt. Sie zeigte den Teufel. "Irgendwas geht nicht mit rechten Dingen zu ... lass mal sehen". Dagmar, die Prophetin, fixierte die Karten, schloss die Augen, und murmelte: "... der Wagen - hier der Narr - und da der Turm - meine Liebe, er ist unterwegs zu einem neuen Ziel, ich kann nicht sehen, wohin ...". Hier fasste sich Dagmar an die Stirn. Dann riss sie unvermittelt die Augen auf und rief: "Wir müssen wissen, wohin!".

"Bitte lösche alle Lichter". Sabine sprang auf, beeindruckt von der augenscheinlichen Dringlichkeit, knipste die Lampen aus und löschte die Kerzenflammen. Die plötzliche Dunkelheit löste sich auf, als die Gegenstände im fahlen Mondschein wieder sichtbar wurden.

"Pssst!", befahl Dagmar. Sie schaltete den Lichtstrahl ein. Sabine sah ihr fasziniert zu. Sie hatte Dagmars Lichtstrahl noch nie in Aktion gesehen. Die Prophetin ließ den weiß-bläulichen Strahl im Zimmer tanzen. Sie ging in das Nebenzimmer, dann ins Schlafzimmer, schließlich in die Küche. Dort verharrte der Strahl eine kurze Weile an der Kühlschranktür, wandte sich dann aber abrupt ab und strebte ins Wohnzimmer zu den Karten zurück. Dagmar beugte sich über die Karten und ließ dem Strahl freien Lauf. Der zuckte und pendelte eine Weile, bis er zur Ruhe kam und genau auf das Hochzeitsphoto über der Kommode zielte. "Schnell - ", flüsterte Dagmar, "hol meine Tasche". Aus der Tasche kramte sie ihr iPhone - der Strahl blieb ruhig stehen - und startete mit den Fingern der linken Hand die Kompass-App. "Da, sieh: genau Südrichtung."

Beide plumpsten ins Sofa. Dagmar strahlte. Jetzt wussten sie, in welcher Richtung sich der Mann davongemacht hatte. Immerhin. Sabine fragte spontan: "Weißt du auch, wie weit oder wo er ist?" Dagmar beugte sich über die Karten. "Die Endkarte ist der Magier. Mmmhm. Mal sehen. Das bedeutet eindeutig, dass dein Ex-Mann an einem geheimen Ort ist, nur wo - das sehe ich im Moment nicht". "Aber südlich, ja?", fragte Sabine schüchtern. "Oh bestimmt!" war Dagmars überzeugende Antwort.

Sabine holte zwei Flaschen Bordeaux. Dann zündete sie alle Kerzen im Raum an und schenkte ein. Es wurde ein fröhlicher Abend, wobei Dagmar noch mehrere Prophezeiungen machte. Eine davon lautete: "Du wirst deinen Mann wiedersehen". Diese Prophezeiung machte sie ohne die Karten, nur auf der Basis ihrer Erfahrung. Ganz spät, beide torkelten umher, bat Sabine ihre Freundin um Hilfe bei der Suche. "Bitte, mmm, such ihn. Du ... kannst das, ja? Machst du?". Dagmar war noch souverän genug zu sagen: "Aber sicher!".

Die Monate vergingen.

Sabine hatte nichts mehr von ihrer Freundin Dagmar gehört. Auf der Landkarte fuhr sie immer wieder die Linie ab, die von ihrem Haus genau nach Süden führt. Diese erstreckt sich über Bergamo, Tunis und Libreville bis zum antarktischen Eisrand.

Viele Menschen in einer solchen Lage greifen zum Alkohol. So auch Sabine. Nicht lange und sie trank sich in ein Delirium, in dem sie in ständiger Wiederkehr ihren Mann sah, immer an verschiedenen Orten, einmal auf einem durchs Eis jagenden Schlitten, einmal am hawaiianischen Strand, Cocktail in der linken Hand, Schönheit im rechten Arm. Immer wenn sie wieder nüchtern war, drängte sie sich zu einem Bekenntnis. Es sollte Schluss sein mit dem Irrsinn. Sie musste verschwinden.

Sabine ist jetzt auch verschwunden

Und so kam der Tag, an dem Sabine zum Kiosk ging und eine Schachtel Marlboro Light verlangte. Mehmet sah sie eindringlich an. Natürlich wusste er vom Verschwinden ihres Mannes und sie tat ihm wirklich leid. Doch er sagte nichts. Sabine trat hinaus in eine neue Welt, eine, in der sie verschwunden war. Es erschien ihr ganz einfach zu sein. Sie ging langsam, immer in Richtung Süden. Sie erkannte die bislang so vertraute Umgebung nicht mehr.

Es bleibt noch zu erzählen, dass Sabine ihren Mann tatsächlich wiedersah. Das war in San Pellegrino Terme (auf der Karte zeigen). In der Pizzeria Da Franco legte sie eine Rast ein. Der Gastraum war spärlich besetzt. Nur am anderen Ende saß eine Gruppe Männer. Das schräg einfallende Sonnenlicht beleuchtete ihren Tisch. Sie tranken Wein. Beim Erscheinen von Sabine blickten zwei von ihnen zu ihr hin. Einer davon, ein großer Typ mit buschigen blonden Haaren, in einer schwarzen Lederjacke, machte eine überraschte Geste und wollte aufstehen. Sabines Blick streifte sein Gesicht. Sie wandte sich ab und ging zu einem kleinen Tisch am Fenster. Während Sabine etwas später ihre Pizza aß, drehte sich der Blonde ein paar mal zu ihr um. Doch er machte keine Anstalten mehr, aufzustehen.

So war Dagmars Prophezeiung letztendlich in Erfüllung gegangen.