Kugelschreiber im Kopf

Kugelschreiber

9.6.2003

Sechs Tage Messe reichen aus, um zu fundamentalen Erkenntnissen über das menschliche Verhalten zu gelangen. Der Besuch einer Messe ist wie ein Besuch im Zoo, denn der Zoo ist der Prototyp aller Ausstellungen. Der Messestand einer Firma kann ein Aquarium, ein Affengehege, ein Troparium sein – im übertragenen Sinn. Der Besucher erwartet dort eine gewisse Darbietung, eine „Schau“ und wird selten enttäuscht, denn jede Firma umwirbt den Kunden mit großer Anstrengung. Es gibt jedoch einen Unterschied zum Zoo. Während der Besucher im Zoo die Tiere füttert, wird er auf der Messe von den Ausstellern gefüttert. Dies geschieht mittels Gebäck auf Tellern, Schnittchen auf Brettchen, Säften, Nüssen, Wein, Bier u.v.m. und ist sozusagen die Standarddarreichung. Manche Aussteller setzen gut aussehende Mädchen ein, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – was übrigens nicht gut geht, denn die Begegnung mit dem weiblichen Exponat löscht die Wahrnehmung und die Erinnerung an das Produkt, um das es dem Aussteller eigentlich geht, völlig aus den relevanten Cortexarealen des Besuchers. Viel subtiler und wirksamer ist der Einsatz kleiner, nicht essbarer Mitnehmsel. Das sind Dinge, die am Messestand für den Besucher bereit liegen und von diesem offensichtlich mitgenommen werden dürfen. Es ist bekannt, dass der Kugelschreiber ein beliebtes Mitnehmsel ist. Wenig bekannt und wissenschaftlich vielleicht noch nicht durchgängig untersucht ist die Annahme, dass der Kugelschreiber bzw. die Inbesitznahme eines Kugelschreibers in einer der fundamentalen Prozeduren im Unterbewußtsein des Menschen codiert sein muss. Pavlowsch ausgedrückt: „Kugelschreiber sehen, Kugelschreiber haben wollen“.

Es ist verblüffend, wie schnell Kugelschreiber verschwinden können. Um das Phänomen des „Verschwindens“ erklären zu können, ist es notwendig, zu experimentieren. Ein Experiment muss oft und immer auf die gleiche Art durchgeführt werden. Das Design meines Experiments war folgendes: Immer wenn kein Kugelschreiber mehr vorhanden war, legte ich drei frische Kugelschreiber aus und zwar auf die Auslage einiger aufgefächerter Prospektblätter. Zu den mit zu berücksichtigenden Versuchsparametern gehört hier der räumliche Abstand der ausgelegten Kugelschreiberassemblage zum Gang (hier nur 80 cm und konstant) und zum Standpersonal (variabel von einem bis zu 8 Metern).

Und das sind die Ergebnisse:

Ergebnis

Die Zeitmessung ergab, dass der erste Kugelschreiber nach durchschnittlich 75 Sekunden mitgenommen wurde, der zweite nach 91 Sekunden und der dritte und letzte nach weiteren 328 Sekunden. In etwa einem Fünftel aller Zugriffe wurden gleich zwei der drei Kugelschreiber mitgenommen (nie jedoch alle drei auf einmal) und zwar nach 79 Sekunden. Um abzuschätzen, wieviele Messebesucher sich an einem 9-stündigen Messetag auf diese Weise zu einem dringend benötigten Kugelschreiber verhelfen, muss man den Besucherstrom ins Kalkül ziehen, der hier schätzungsweise rund 20 Menschen pro Minute betrug. Wie die Messungen ergeben hatten, waren alle drei Kugelschreiber nach etwas mehr als 8 Minuten verschwunden. Das heißt, dass 1,9 % der Vorbeigehenden den Reizen der Kugelschreiberdarreichung nicht widerstehen können. Dieses Ergebnis und weitere sind wichtig für Ihre Messeplanung. Erstens wissen Sie, dass Sie unter den geschilderten Umständen innerhalb von sechs Tagen mehr als tausend Menschen glücklich machen werden. Zweitens benötigen Sie dazu eine etwa ebenso große Anzahl von Kugelschreibern (genau gesagt: im Mittel 1215 Stück). Die Entfernung des Standpersonals zum Ort der Darreichung beeinflusst das Ergebnis erheblich. Die geschilderten Ergebnisse gelten durchweg für einen großen Abstand. Sobald sich eine Person unserer Firma nahe am Gabentisch aufhielt, verlängerten sich die Mitnahmeintervalle erheblich. Wenn eine Standperson nicht ganz nahe, aber doch autoritativ wahrnehmbar war, kam es in vielen Fällen auch zur Prospektmitnahme (sonst nicht). Offensichtlich war dann der Druck auf den Besucher so groß, dass er die Tat durch scheinbares Interesse für unsere Produkte verschleiern wollte. Welche Schlüsse sind aus all diesem zu ziehen ? Zunächst ein Witz, der gerne beispielhaft erzählt wird: „Wie gelingt es, 50 Zahnärzte auf die Rückbank eines Busses zu bekommen ? Indem man dort 3 Kugelschreiber hinlegt.“ Wenn alle Zahnärzte im Bus sind, wird die Tür zugemacht und die Kaffeefahrt beginnt – so viel zum Hintergrund. Ich finde es übrigens bedauerlich, dass es diesmal die Zahnärzteschaft getroffen hat. Im Prinzip kann man hier „Zahnärzte“ durch jede Berufs- und Menschenart ersetzen. Zwei Schlussfolgerungen sind meines Erachtens angebracht: Erstens ist die Inbesitznahme eines Kugelschreibers, der einem nicht gehört, nicht allein durch den Sammeltrieb des Menschen zu erklären. Es ist schon die Reaktion auf Knappheit (nur drei Kugelschreiber lagen jeweils aus !) und das schon erwähnte genetisch verankerte Mikroprogramm im Gehirn jedes Menschen. Zweitens führt die Beobachtung, dass der dritte (und letzte) Kugelschreiber immer relativ lange liegen blieb, zur verallgemeinerten Erkenntnis, dass der Mensch trotz aller genetischen Zwänge kraft seiner Großhirnprogrammierung sozial handelt, indem er den anderen auch etwas lässt. Man nennt das oft das „schlechte Gewissen“. Die Übertragung dieser Erkenntnisse auf Politik, Religion, Wirtschaft, Raumfahrt und Kindererziehung möchte ich Ihnen ersparen. Bei mir selbst habe ich festgestellt, dass die Zahl der Kugelschreiber auf meinem Schreibtisch, in meinem Büro, in meinen Taschen ständig zunimmt, und dass ich ein Überhandnehmen nur durch periodisches Wegwerfen verhindern kann. Woher diese Kugelschreiber immer wieder kommen, weiß ich jedoch bis heute nicht.

Messe

Nachtrag:

Berechnungen zu „Kugelschreiber im Kopf“, nicht zur Veröffentlichung bestimmt:

Obwohl die Mitnahme von 2 Kugelschreibern anstelle von nur einem eine Verzögerung von 79 Sekunden statt 75 Sekunden bedeutet (4 Sekunden mehr), wird hier mit dem Einfach-Intervall von 75 Sekunden gerechnet, so dass die drei Kugelschreiber immer nach 494 Sekunden = 8,2333 Minuten verschwunden sind. Es wird dann abgerundet auf 8 Minuten und „Intervall“ genannt. In 8 Minuten gehen 160 Personen vorbei (20 x 8). Die 3 Kugelschreiber werden von so vielen Personen mitgenommen: 2 x 0,2 + 3 x 0,8 = 2,8 Personen (zu 20 % 2 Stück und zu 80 % 3 Stück) Das heißt, dass im Intervall von 8 Minuten 2,8 Personen einen Kugelschreiber erhalten. In den 6 Tagen mit je 9 Stunden gibt es 405 8-Minuten-Intervalle. Dementsprechend erhalten in 6 Tagen 1134 Personen eine Kugelschreiber. Tatsächlich müssen aber 405 x 3 Kugelschreiber ausgelegt werden = 1215 Stück.