Unsichtbar

Unsichtbar

24.12.2004

Als Sie als Mensch auf die Welt kamen, blickten Sie in große helle ovale Flächen mit jeweils zwei dunklen Punkten und einem großen Loch („Aaaah“) oder einem Strich („Mmm-mmh“) – umgeben von greller Akustik. Sie standen im Mittelpunkt des Interesses einer Ansammlung von Menschen, doch die Bedeutung dieses Moments war Ihnen nicht bewusst. Dieses zentrale Erlebnis hat sich jedoch tief in Ihrem Bewusstsein verankert und beeinflusst bis heute all Ihre Wahrnehmungen und Äußerungen. Denn, was Sie damals geschenkt bekamen, müssen Sie sich heute hart erkämpfen: die Aufmerksamkeit anderer.

Von Vorteil ist es, schon die Kindheit dafür genutzt zu haben, spektakuläre Auftritte zum Thema Verweigerung, Widerstand, Trotz, Aufmüpfigkeit, Nonkonformität (unbewusst) einzuüben. Menschen, die diesen Erfahrungsschatz nicht besitzen (und ihn also nicht für ein Minderheitendasein nutzen können), müssen im späten jugendlichen oder frühen erwachsenen Alter zu anderen Mitteln greifen, wobei der Nasenring und keine Haare auf dem Kopf zwar zu den auffallenden, jedoch relativ phantasielosen Mitteln gehören.

Schwer haben es diejenigen, die weder aufmüpfig waren noch große Anstrengungen machen, aus der Reihe zu fallen. Sie laufen allesamt Gefahr, unsichtbar zu werden. Ich möchte Ihnen nun berichten, wie es ist, unsichtbar zu sein.

Zunächst ist festzustellen, dass der Zustand der Unsichtbarkeit nicht bedeutet, kein Spiegelbild hervorzurufen, was durch die allmorgendliche Gegenüberstellung im Badezimmer (der Spiegel ist das Medium) jeden Tag aufs Neue überprüft werden kann – immer unter der Annahme, dass es sich bei dem beobachteten Phänomen um ein physikalisch und mathematisch beschreibbares handelt.

Einen weiteren Irrtum gilt es auch noch aufzuklären. Gesinde ist nicht unsichtbar, sondern durchsichtig. Das Dienstpersonal im herrschaftlichen Haushalt oder im Hotel, um nur zwei Beispiele zu nennen, ist Bestandteil der Umgebung und ist ohne Anspruch auf Wahrnehmung beschäftigt – durchaus vergleichbar mit Ihrem Kühlschrank, dem Sie ja auch keine besondere Aufmerksamkeit schenken, wenn Sie Ihr Bier entnehmen – oder ?

Und dann erzählen manche Menschen von ihrem Arzttrauma. Der Besuch einer ärztlichen Praxis verläuft für sie immer auf die gleiche Weise: sie tragen dem weißen Doktor ihr Problem mit den Worten vor: „Herr Doktor, alle ignorieren mich, als ob ich unsichtbar bin“. „Der Nächste bitte“ ist eine der Redewendungen des Doktors, die sie fürchten und doch immer wieder aufs Neue ertragen müssen, und die nur scheinbar als Antwort auf ihren Vortrag verstanden werden kann. Und dann gibt es Menschen, die das als Witz verstehen.

Nun, mir geht es da hinsichtlich der Wahrnehmung in Arztpraxen doch etwas besser. Mittels Vorlage meiner Privatpatientenkarte (P-Card) bin ich zumindest für Ärzte sichtbar. Doch was nützt mir die P-Card, wenn ich Brötchen kaufen will ?

Überhaupt: Einkaufen ! Phänomenologisch ist Unsichtbarkeit ganz offenbar eng verknüpft mit der Ausstrahlung von Unsicherheit bei der Wahl von erwerbbaren Gegenständen sowie Entscheidungsschwäche auf der ganzen Linie. Noch in der hintersten Reihe stehend und ohne überhaupt in ihrem Gesichtsfeld erfasst zu sein, bin ich für die Verkäuferin eine Nichtperson, ein Nichtkäufer, ein Falschkäufer, ein Zuwenigkäufer – eine Randfigur, eine Pappfigur, gleich dem flachen Kartonbäcker, der in der Eingangstür tagesfrische Croissants anpreist. So gesehen nützt es mir nichts, irgendwann am Tresen angelangt zu sein (nach diversen Rückschlägen, verursacht durch zielbewusste, ältere Hausfrauen, die ihr gutes Recht, sich auch nachträglich vor mir in die Warteschlange einzureihen, ohne Rückfrage wahrnehmen). Eine wiederholbare Erfahrung ist es, in diesem Moment (nicht des Glücks) der Erwartung und zugleich der Angst vor der nun anstehenden Forderung nach endgültiger Entscheidung (ich nehme nur Mohnbrötchen - wenn keine mehr da sind, was oft vor kommt, durchlebe ich traumatisierende Momente unter dem Zwang, mich für etwas entscheiden zu müssen, was ich weder haben noch essen möchte) die verblüffende Beobachtung zu machen, dass die Verkäuferin geschäftig wird, anfängt aufzuräumen, zusammenpackt, wischt, den Kolleginnen etwas zuruft, kurzum keinerlei Anstalten macht, Notiz von mir zu nehmen. Was eigentlich eine physikalische Unmöglichkeit ist, wird hier wahr: ich bin unsichtbar geworden. Vielleicht nicht mit einem Schlag, vielleicht langsam und immer mehr während des Vorrückens in der Schlange, gekoppelt an wachsende Nervosität, feuchte Handflächen und das Memorieren des entscheidenden Satzes „Vier Mohnbrötchen bitte“, immer mit der Aussicht, am Ziel kein Ohr und keine Augen mehr vorzufinden, die sich für mein Anliegen interessieren.

Einkaufen ist für Unsichtbare ein ungeheuer schwieriges Unterfangen !

Wir haben also verstanden, dass fehlende Zielstrebigkeit zu fehlender Wahrnehmbarkeit führt. Doch was ist am Point of Sale ? Was passiert da ? Kann man unsichtbar sein, wenn es ans Zahlen geht ? JA, MAN KANN ! Es ist mir im zentralen Bushof in Hamburg passiert. Auf den Bus aus Paris wartend beschloss ich, im McDonald’s etwas zu mir zu nehmen. Meine Wahl fiel auf die warme Apfeltasche. Also bekam ich prompt die Apfeltasche in einer Tüte, die sich warm anfühlte. Ich stand direkt vor einer der vier Kassen, von rechts neben mir rückte der nachfolgende Kunde auf. Zwei Euro zwanzig hielt ich zwecks Übergabe bereit, doch der junge Mann neben mir wurde nach Wünschen und Sonderwünschen abgefragt, die Bestellung eingebucht und ausgeführt. Ich hatte keine Chance ! Ich sah mein Spiegelbild (schwach zwar) in der Werbefläche hinter dem Counter, fasste mich selbst als real auf, hatte auch das Gefühl, existent und irgendwie sichtbar zu sein, wurde jedoch ganz klar nicht mehr als reales, mit einer Forderung belastetes Objekt wahrgenommen. Ich drängte mich nicht auf und ging quasi transparent meines Weges (zurück zur Bushaltestelle).

Natürlich machen solche Begebenheiten Appetit auf mehr. Ich denke aber, dass ein Bankraub nicht unter ähnlich transparenten Bedingungen durchführbar ist. Es ist klar, dass zu einem Bankraub eine Bedrohung wie „Hände hoch“ oder „Geld her“ gehört - zumindest wird das so immer in Filmen dargestellt – doch um bedrohlich zu wirken, muss man sichtbar sein ! Insofern ist das kein Betätigungsfeld für Unsichtbare wie mich.

Alptraum

Das eigentliche Problem für Leute wie mich ist doch das Erkennen des eigenen Zustands – sichtbar oder nicht, das ist eben oft die entscheidende Frage. Automatisch öffnende und schließende Türen sind eine Herausforderung für diese Selbsterkenntnis, ich meine damit vor allem die geteilten Glastüren, deren beide Hälften in die Wände nach links und rechts verschwinden, wenn eine optisch oder akustisch sichtbare Person vor sie tritt. Mein Auftritt bewirkt das Gegenteil, nicht immer, aber zu oft, so dass blaue Flecken an den Oberarmen, auch im Rücken die Spuren der Missachtung meiner Person sind. Ich habe mir angewöhnt, nur in Begleitung anderer Personen durch automatische Türen zu gehen. Wenn dies nicht möglich ist, nähere ich mich der Tür langsam und teste ihr Verhalten, gespannt wie eine Feder, um mich mit einem Rückwärtssprung in Sicherheit zu bringen. Die mechanische Sicherheitseinrichtung (gegen Zusammenquetschen von Menschen) funktioniert nämlich nicht bei mir.

All diese Erfahrungen geben mir Hoffnung, was das Ende betrifft. Am Ende trifft jeder Mensch auf den Sensenmann, der ihm den Garaus macht. Meine Veranlagung, von technischen und humanoiden Sensoren überwiegend nicht detektiert zu werden, führt mich – zusammen mit der Absicht, weiter daran zu arbeiten – zu der Überzeugung, dass ich am Ende einfach übersehen werde. Nun plagt mich die Frage, wie ich es schaffen soll, irgendwann doch ins Gras zu beißen.