Das Ende der Welt
25.3.2004
Die Welt mag für Sie ein flammender Sonnenuntergang sein, kaltes Wasser an einem heißen Sommertag, oder eine Liebesbeziehung ohnegleichen. In Wirklichkeit aber – sofern wir eine Wirklichkeit akzeptieren – ist die Welt eine Ansammlung von Quarks, Atomen und Molekülen. Materie und Energie in zeitloser, endloser Wechselwirkung. Die Bedeutung dessen, was wir sehen und fühlen, entsteht in unserem Kopf – oder in den Köpfen derer, die es besser wissen wollen.
So stellt sich nicht die Frage nach dem Sinn des Lebens (reine Interpretation), sondern nach Anfang und Ende. Doch Vorsicht: physikalische Gegebenheiten weisen nicht darauf hin, dass etwas wie Zeit existiert, um daraus eine Zeitlinie konzipieren zu können, die Begriffe wie früher oder später zuließe.
Eine vollständig umkehrbare chemische Reaktion zum Beispiel kann den Ausgangszustand unterschiedslos wiederherstellen. Somit macht es keine Sinn, Prozesse dieser Art mit der Dimension Zeit zu versehen. Ein Zustand, der in identischer Ausprägung immer wieder eintritt, kann weder mit früher noch später charakterisiert werden. Er ist.
Der Eindruck, dass Zeit verstrichen ist, entsteht nur beim Beobachter, der wiederum geprägt ist von den allgegenwärtigen „Beweisen“ des Alterns. Wie Sie jedoch wissen, gibt es Altern nicht, sondern lediglich Veränderung. Doch: ist es nicht so, dass Ihnen oftmals ein Tag wie der andere erscheint ? Vergeht „Zeit“ – oder nicht ? Und somit: wenn Sie damit zufrieden sind, dass der Tag beginnt, wenn die Sonne aufgeht, und zu Ende ist, wenn sie untergeht, wird mancher Sie als glücklichen Menschen bezeichnen.
Weil wir ohne Zeit nicht leben wollen, definieren wir sie anhand der Atomuhr als Taktgeber, und dies folgendermaßen: „Eine Sekunde ist das 9 192 631 770 – fache der Periodendauer der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133Cs entsprechenden Strahlung“. Das arme Caesium-Atom muss viele Billionen mal schwingen, um die Sekunde überhaupt erst zu erschaffen. Und das in alle Ewigkeit – zeitlos. Jedes regenerative System ist zeitlos.
Auch der Mensch ist regenerativ, zerfällt jedoch im Takt der Atomuhr. In kosmischer Betrachtung lebt er nur 0,2 Millisekunden. Nehmen wir einmal an, das Universum würde genau 24 Stunden existieren. Schauen Sie sich dazu das Bild weiter unten an, das eine Spur durch das NICHTS zeigt. Um 0:00 Uhr entsteht aus einem Stecknadelkopf voller Atome in einer unvorstellbar gewaltigen Explosion (Expansion) das Universum – nicht gleich auf einmal, aber ziemlich schnell. Dieser Zeitpunkt ist im Bild mit BIG BANG markiert. Um 24:00 Uhr ist die Lebensuhr unseres Universums endgültig abgelaufen Schon Stunden vor Mitternacht hat sich die Expansion des Universums zunehmend beschleunigt und gipfelt schließlich im BIG RIP, der nicht nur die schöne Milchstraße, sondern alle Galaxien buchstäblich in Einzelteile zerreißt, bis nichts als das NICHTS übrig bleibt.
An diesem interessanten Tag passiert natürlich noch mehr. Um 6:27 Uhr geht die Sonne auf, das heißt, sie entsteht und in den darauffolgenden Minuten formieren sich die Planeten um sie herum. Jetzt ist es übrigens gerade 9:36 Uhr ! Jetzt deshalb, weil Sie diese Zeilen lesen, also als Mensch existent sind (oder ?). Leider ist es so, dass Sie sich beeilen müssen. Bedenken Sie, dass die gesamte Menschheit nur 22,7 Sekunden lang existiert. (Innerhalb der Lebensdauer des Universums von 35 Milliarden Jahren nehmen wir eine Existenzspanne des Menschen von 10 Millionen Jahren an, was im Vergleich zur Dinosaurierperiode von 70 Millionen Jahren und unter Berücksichtigung der genetischen Instabilität der Gattung Mensch schon reichlich bemessen ist) und Sie selbst nur 0,2 Millisekunden (fertig mit Lesen ?). Tja, so gegen 9:36 Uhr plus eine halbe Minute ist der Menschenspuk vorbei. Trösten Sie sich damit, dass unsere sechsbeinigen Nachfolger auch nicht viel mehr als einige Minuten krabbeln und dichten.
Zumindestens wird kein Zweibeiner mehr den Untergang des Sonnensystems und seiner geliebten Erde erleben, denn dieser findet erst um 14:40 Uhr statt.
Hier sehen Sie, wie dunkle Energie das Weltall ausdehnt und zum Schluss in Stücke reißt. Die Apokalypse ist nicht der Tod des Sonnensystems (und damit der Erde), sondern der RIP der Milchstraße und aller weiteren 100 Milliarden Galaxien.
Nun ist unser Universum ganz offensichtlich ein riesiger Zellverbund aus Molekülkomplexen. Wir gehen davon aus, dass jede Galaxie einen solchen Komplex darstellt. Ein derartig aufwendig zusammengesetztes Gebilde ist ein Wesen, das natürlich nicht alleine bestehen kann (es wäre ziemlich einsam). Deshalb bevölkern Myriaden dieser Wesen den Hyperraum. Nun ist dieser, wie Sie sich leicht vorstellen können, nur einer von mehr als vielen, aus denen ein Superwesen besteht, das wiederum nicht alleine ist ...
Somit: ist die Welt an sich eine unendliche russische Puppe ? (Und wieso russisch ?)
Einen kleinen Einblick in das Leben der universellen Hyperraumwesen gibt uns die folgende Szene, die sich in unserer terminalen Zukunft abspielen wird:
Rip Smashenburn saß wie jeden Morgen um 7 Uhr 15 in der kleinen Küche der Smashenburns, und während Raquel Smashenburn, die sehenswerte junge Frau von Rip Smashenburn ihm Kaffee einschenkte, studierte er die zweite Seite des Hexagon Morning Star mit den Meldungen über die Close-Call-Rendezvous der letzten vier Stunden. Im Hintergrund ertönten leise gestellt die God’s Morning News. Die Welt war also in Ordnung, und als Raquel, während sie goss, Rip sanft auf die Schläfe küsste, bewunderte sie seine Ruhe, denn die Nacht war wenig erfreulich gewesen. Rips starke Blinddarmreizung hatte ihn kaum schlafen lassen, und infolgedessen Raquel auch nicht. Aber jetzt schien es ihm besser zu gehen. Raquel hatte in letzter Zeit Muskelschmerzen im rechten Oberschenkel, aber sie war jung und einige gymnastische Übungen halfen immer.
Sie haben jetzt sicher schon verstanden, dass Rip Smashenburn das Universum ist – unser Universum, so weit wir es kennen und darüber hinaus erahnen. Rip war in seinen besten Schaffensjahren, als ihn diese unangenehme Blinddarmreizung ereilte. Die Supernova der Sonne und die daraus resultierende völlige Vernichtung des gesamten Sonnensystems (einschließlich der Erde natürlich) wurde bei Rips Arztbesuch, zu dem er sich auf Drängen von Raquel doch noch entschlossen hatte, als starke, jedoch selbstheilende Entzündung (hot inflammation) diagnostiziert. Tatsächlich beeinträchtigten die erkalteten, toten Planeten und deren Fragmente Rips ausgezeichnete Gesundheit nicht weiter.
Raquel, ein ganz anderes Universum, wird Rip um 22 Jahre überleben und in ihren letzten Jahren leiden müssen, denn die Galaxien, die durch ihre Blutbahnen strömen, sind die Ersten, die in Raquels BIG RIP untergehen.
Erklärend sei noch gesagt, dass die Bewohner von Rips und Raquels Welt am Ende ihres Lebens explodieren, genauso wie sie mit einem BANG auf die Welt kommen (bääh).
Wenn Sie sich nun selbst betrachten, eingeschlossen in einer dünnen Lufthülle, gefangen in zwei Dimensionen, kurzlebig und wissenslos, und sich Ihrer Bedeutungslosigkeit endgültig bewusst werden, haben Sie mehrere Möglichkeiten:
Sie können die nächstgelegene Kirche aufsuchen, oder Moschee oder ähnliches, und ihren Herrn um Beistand bitten. Seien Sie nicht wählerisch, vertrauen Sie sich der Gottheit an, die Sie gerade vorfinden, denn die Lage ist ernst.
Sie können endlich Ihre Karin anrufen, um ihr zu sagen, wie leid es Ihnen tut, sich von ihr getrennt zu haben, und dass es eine schöne Zeit mit ihr war, dass Sie sie noch immer lieben, und dass es doch noch nicht zu spät ist, um noch einmal ...
Sie können sich auf die Spitze eines hohen Turms begeben und von dort zur Erde hinunterspringen. Diese Tat ändert nichts am Lauf der Welt, doch sie befreit Sie für immer von der Verzweiflung, die Sie in Betracht meiner Erläuterungen erfasst hat.
Oder – Sie können zum Niendorfer Strand fahren, die Zehen in den warmen Sand stecken, das weite, tiefblaue Meer bewundern und den darüber aufgespannten Himmel in seinen Hellblauabstufungen bis zur schimmernden geraden Linie am Horizont in aller Ruhe wirken lassen. Das unablässige Aufbrausen der Wellen, das sich ständig wiederholende Auf- und Ablaufen der Wasserzungen über dem feinen weißen Sand lullt sie ein, bis Sie nicht mehr die rasende Expansion des Weltalls und den Tod ihrer Heimat in nur wenigen Milliarden Jahren vor Augen haben. Ein Zustand des Glücks stellt sich ein und Ihr Dasein bekommt einen Sinn (am Strand liegen).
Ich musste Ihnen all das erzählen. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Tut mir leid.
Trost gibt es trotz allem:
Wenn Sie Ihre Nachricht dem KEO-Satelliten anvertrauen, der in 50.000 Jahren wieder auf die Erde zurückkehrt, können Sie in der Vorstellung schwelgen, dass Menschen in ferner Zukunft erfahren werden, wie es in der Vergangenheit gewesen ist (jetzt). In Ihrem Kopf entsteht ein Stück Unendlichkeit.
In Rip Smashenburns hundertjährigem Leben, das die Lebenszeit unseres Universums darstellt, vergehen dabei eine Stunde und zwölf Minuten. Zufällig fällt der Start des KEO Satelliten auf den Augenblick, in dem all seine Freund/e/innen das Glas erheben, um ihm zu seinem 40. Geburtstag viel Glück und ein langes Leben zu wünschen. Am Ende eines erfreulichen Brunches, angereichert mit kostbarem Blauwein vom Planeten CRUNCH, verspürt Rip im sub-subatomaren Bereich seiner äußeren Appendix Marginale Region nicht, dass dort ein epochales Ereignis stattgefunden hat.
Wenn wir nicht wüssten, dass wir hier sind, würden wir uns nie finden.