Zeitreisender Anthony Westinghouse

26.9.2023

In letzter Zeit häufen sich die Vorhersagen zum Weltuntergang, vor allem auf dem chinesischen Kanal TikTok. Dort sind es in der Regel Zeitreisende, die eigentlich in der fernen Zukunft leben, aber aus alter Verbundenheit mit der Erde in die Gegenwart zurückreisen, um ihre Nachricht auf TikTok abzusetzen. Immerhin wissen sie, wann was passieren wird, denn sie haben es selbst erlebt. So kann man die Endzeitkatastrophe in aller Ruhe auf vielen Bildern und Videos studieren. Man sieht brennende Städte, zusammengefallene Dörfer, überflutete Landschaften - etwa so, wie es jeden Tag im Fernsehen zu sehen ist. Die Beweislast ist erdrückend. Dazu kommt, dass der Weltuntergang nur so weit in der Zukunft liegt, dass die Mehrheit der Leserinnen und Leser diesen persönlich erleben werden. Das ist wichtig und vom Zeitreisenden entsprechend terminiert, denn wer tot ist, hat wenig vom Ende der Welt und ist somit zu Lebzeiten wenig interessiert.

Der Beweis für eine Zeitreise ist nicht einfach zu erbringen. Es gibt zwar eine Fülle von "Beweisphotos" von den vielen Zeitreisenden, die im Internet unterwegs sind, doch diese sind natürlich wertlos. Es gibt bekanntermaßen heute kein Bild, das nicht gefälscht ist. Was ganz früher und ganz ohne Computer die Retouche von Bildern war, um  missliebige Verwandte aus Gruppenphotos zu entfernen und andere Manipulationen durchzuführen, ist heute gängige Praxis unter Verwendung geeigneter Programme wie DALL-E, Midjourney etc. zur automatischen Bilderzeugung (z.B. <Gib mir ein Bild vom Weltuntergang mit Explosionen und roter Sonne>) sowie GIMP (GNU Image Manipulation Program) zur detaillierten Überarbeitung solcher Bilder. Man kann sich also ganz einfach merken: Was ein Bild zeigt, gibt es in Wirklichkeit nicht. Grundsätzlich. Von daher ist es praktisch unmöglich, irgendein Ereignis oder einen Gegenstand in der Zukunft per Bild zu belegen.

Wenn es schon keine Beweisphotos gibt, möchte man doch gerne die Techniken der Zeitreisenden kennenlernen. Benutzen sie Geräte raffiniertester Bauart oder lediglich ihre Geisteskraft? Wie schaffen sie es, auf der Stelle Jahrtausende zu durchmessen? Genaueste Beschreibungen sind erforderlich, am besten mit Patentschriften und Bauanleitungen, um die verschiedenen Zeitmaschinen nachzubauen und verifizieren zu können. Doch hier herrscht gähnende Leere. Kein Zeitreisender erklärt seine Technik oder seine Maschine. Die Zeitreise wird somit zur Glaubensfrage. Märchenhaft. Physikalisch gesehen kann man mit Lichtgeschwindigkeit sehr große Entfernungen überbrücken, wobei die Zeit stehen bleibt. Diese Reise kann man als Zeitreise in eine ferne Zeit verstehen. Doch bei Lichtgeschwindigkeit nimmt das Vehikel, in dem man reist, eine unendlich große Masse an, und benötigt für seinen Antrieb eine unendlich hohe Energie. Außerdem dürfte im Moment der Lichtgeschwindigkeit jeder Überblick verloren gehen.

Das Antlitz im Krabbenebel

Die Bewegung durch Zeit und Raum benötigt Teleportation, eine Technik, die ebenfalls nur vage beschrieben wird. So zum Beispiel im Fall des Professors Tarantoga [1]. Sein Teleportator, genannt Peregrinator ("Freund des Reisens"), ist ein Apparat in der Größe eines kleinen Koffers mit Anzeigen, irgendwelchen Röhren und einer möglichst großen Ausschalttaste, weiterhin mit Kontaktbuchsen zum Stöpseln und einer Signallampe, die immer brennt während eines Aufenthalts auf einem anderen Planeten. Das Gerät funktioniert elektrisch und wird aus dem allgemeinen Stromnetz aufgeladen.
Mit Hilfe eines Zielfernrohrs werden Planeten in der Milchstraßen-Galaxie anvisiert. Was immer dort zu sehen ist, wird umgehend in Tarantogas Wohnung teleportiert, zum Beispiel Mondgestein, aber auch Lebewesen. Tarantoga und sein Assistent führen Gespräche mit den Lebewesen. Unter anderem auch mit dem "Antlitz", einer abstrakten Form im Nebelfleck der Krabbe. Es ist das Wesen, das vor langer Zeit die Erde und die Menschen erschaffen hat, jetzt aber sehr unglücklich mit dem Ergebnis ist. Es sei schuld, dass immer wieder Eiweiß entsteht beim Umrühren der Spiralnebel und damit seltsame Intelligenzen erzeugt. Zum Schluss fordert Tarantoga eine Entschädigung für dessen Fehlverhalten, sein Assistent besteht auf einer Wunschmaschine, die umgehend im Wohnzimmer des Professors erscheint. Der Assistent wünscht, dass sich die Zeit um zehn Jahre zurückbewegt, um Lebenszeit zu gewinnen, was dann auch geschieht.

In den Anfängen des Zeitreisens, so um 1895, waren die Zeitmaschinen recht primitive Geräte und kamen mit einigen Hebeln aus. Sie ermöglichten die Fahrt in ferne Jahrtausende, allerdings auf der Stelle. Die berühmte Beschreibung der ersten funktionierenden Zeitmaschine [2] von H.G.Wells liest sich wie folgt: ... Einige Teile bestanden aus Nickel, andere aus Elfenbein, manche waren offenkundig aus Bergkristall herausgesägt oder -gefeilt ... Gesteuert wird die Maschine mit einem Starthebel und einem Hebel zum Stoppen. Der Zeitreisende sitzt auf einem Sattel und betätigt den Starthebel und gleich darauf den Stopphebel, um nicht zu weit in die Zukunft katapultiert zu werden. Das immer wieder in länger werdenden Intervallen. Der Zeitreisende schildert seine Empfindungen als unangenehm. In seinen Worten: ... Ich drückte den Hebel ganz nach unten. Als habe man eine Lampe ausgemacht, war es Nacht und schon im nächsten Moment wieder Morgen. Im Labor wurde alles zunehmend undeutlich und schummrig. Die Nacht von morgen brach schwarz herein, dann wurde es wieder Tag, schneller und schneller.Ein gluckerndes Rauschen erfüllte meine Ohren und eine seltsame, dumpfe Verwirrung senkte sich auf meinen Geist. Was genau man beim Zeitreisen empfindet, werde ich Ihnen nicht recht vermitteln können, fürchte ich. Es ist überaus unangenehm. Man fühlt sich hilflos, als würde man in einer Achterbahn kopfüber dahinrasen. Dazu kommt noch das Gefühl, jeden Moment mit Wucht irgendwo gegenzuprallen. Mit zunehmendem Tempo empfand ich den Wechsel von Tag und Nacht wie das Schlagen eines schwarzen Flügels ... Inzwischen war die Sonne zu sehen, wie sie im Minutentakt über den ganzen Himmel zog, und der Himmel nahm die Farbe tiefen Blaus an ... Das besondere Risiko lag darin, dass ich in dem Raum, den ich und meine Maschine einnahmen, mit Materie kollidieren konnte. Solange ich mit hoher Geschwindigkeit durch die Zeit reiste , war das kaum von Bedeutung. Ich war gleichsam gasförmig, glitt wie Wasserdampf durch die Lücken in der mir begegnenden Materie! Aber indem ich anhielt, lief ich Gefahr, mich Molekül für Molekül in mir unbekannter Substanz zu verhaken; anhalten bedeutete, meine Atome derart eng in Kontakt mit denen des Hindernisses zu bringen, dass die Folge eine starke chemische Reaktion sein konnte, möglicherweise gar eine heftige Explosion, die mich und meinen Apparat aus allen denkbaren Dimensionen hinausschleuderte - ins gänzlich Unbekannte ...
Der Zeitreisende landet jedoch ohne größeren Schaden auf der Wiese unweit vom Ort seines inzwischen verschwundenen Hauses. Sehr bald erlebt er eine völlig neue Welt, bevölkert von kleinen kindlichen Wesen, aber auch den todbringenden Morlocks im Untergrund. Nach vielen Abenteuern gelingt ihm die Rückreise zum Ausgangsort in seinem Haus. Seinen neugierigen Gästen zeigt er die ramponierte Zeitmaschine: ... Ohne Zweifel, dort im flackernden Schein der Lampe stand die Zeitmaschine, massig, hässlich und schief, ein Ding aus Metall, Ebenholz, Elfenbein und lichtdurchlässigem Quarz ... beim Berühren erwies sich das Gestänge als stabil und ... hatte Dreckspuren und Flecken auf den Elfenbeinteilen, etwas Gras und Moos an den unteren Bauteilen, und eine Stange war stark verbogen ... Der Zeitreisende kündigte dann an, noch einmal eine Fahrt in die Zukunft zu unternehmen, diesmal nur für eine halbe Stunde. Er fuhr los, verschwand, und tauchte nie wieder auf.

Zeitmaschinen kommen in den unterschiedlichsten Formen vor. Zum Beispiel Mitte vorigen Jahrhunderts als eine Art Fahrstuhl [3] ... Techniker Harland betrat den runden Kessel, der genau in einen vertikalen Schacht aus schimmernden Stäben eingepasst war. Zwei Meter über seinem Kopf verschwammen sie in durchsichtigem Dunst. Harlan stellte die Steuerung ein und betätigte den Starthebel ... Der Kessel bewegte sich nicht ... Doch eine Bewegung war auch nicht zu erwarten, weder nach oben noch nach unten, weder nach links noch nach rechts. Doch die Abstände zwischen den Stäben verschmolzen zu einer grauen Leere, die man fühlen konnte, obgleich sie stofflos war. Und da war auch diese eigenartige Unsicherheit im Magen, dieser leichte Anflug von Schwindel, der darauf hinwies, dass der Kessel durch die Ewigkeit aufwärts schoss ... genau gesagt, dem 2456. Jahrhundert entgegen. Harland ist ein "Ewiger", der in die Vergangenheit reist und an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten "Realitätsveränderungen" vornimmt, um den Lauf der Geschichte zu beeinflussen und dadurch Kriege,  Katastrophen oder gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu verhindern. Er untersteht dem Ewigkeitsrat. Seine weiteste Zeitreise führt Harland in das Jahrhundert 111.394, wo er seine Freundin Noys, eine Menschliche, versteckt hat.
Ohne es explizit zu erwähnen oder auch nur im Ansatz zu erklären, gehört die Teleportation zum Repertoire der "ewigen" Zeitreisenden, denn auch die kleinste Realitätsveränderung muss persönlich und vor Ort durchgeführt werden. Insofern handelt es sich hierbei um eine echte Reise durch Raum und Zeit, anders als bei den ersten Zeitmaschinen, die sich und ihre Nutzer gerade mal entlang der Zeitdimension bewegten. - wie weiter oben im Text ausgeführt wurde.

Westinghouse-Time-Power Diagramm

Die einzige technisch-wissenschaftliche Schilderung des Zeitreisens in die Zukunft findet sich im Bericht des Ranchers Anthony Westinghouse (Die Zukunft [0]). Er löste vor allem das mathematisch-physikalische Problem der Energieversorgung zur Überwindung riesiger Zeitentfernungen. Von ihm stammt das berühmte "Westinghouse-Time-Power"-Diagramm der Funktion Leistung = Zeit(exp(k)) auf einer Zeitskala von 0 bis 1. Diese Funktion beschreibt den Anstieg der benötigten elektrischen Leistung zur Erreichung einer Zeit bis zu 5 Milliarden Jahre in der Zukunft. Dieser Zeitraum umfasst die gesamte Lebensspanne der Erde. So ist für das Erreichen einer Zeit nach dem Untergang der Welt eine Dauerleistung von rund 300 MW notwendig.

Westinghouse ist Rinderzüchter und interessiert sich für die Zukunft ... Unzufrieden mit dem Mangel an Informationen aus der Zukunft schuf ich mir eine eigene Möglichkeit, dort nachzusehen. Mit Hilfe der PUSH-PULL-Technik (PPT) gelangen mir im experimentellen Stadium schon einige kleine Hüpfer entlang der Zeitachse. Das Besondere an dieser Technik ist der gesicherte Zustand bei Zielerreichung, das heißt, die Kapselung zum Schutz vor möglicherweise negativen physikalischen Bedingungen am „Landeort“. Landung ist ein völlig unzutreffender Begriff, denn wenn ich „lande“, dann „bin ich da“. Eine Aura umgibt mich, deren Transmissibilität ich selbst steuern kann. Ich kann auch durch vorsichtige Justierung eine Raumnavigation vornehmen. Erst wenn die neuen Verhältnisse akzeptabel sind, setze ich mit einem Gedankenimpuls die Realität ein ... Schnell wurde Westinghouse klar, dass immer mehr Energie benötigt wird, je weiter man in die Zukunft vordringen will. So begann er Schritt für Schritt immer größere Energieversorgungsanlagen zu bauen, vom ENERCON EP6 Windrad bis zum GE Hitachi PRISM 300MW Fast Neutron Reactor. Zur Energiepufferung baute er eine HEINDL-Schwerkraftanlage in den Granitboden seiner Ranch. Diese hat einen 150 Meter Durchmesser Granitkolben, der durch Wasserdruck angehoben wird und im Bedarfsfall eine Turbine antreibt. Die Kapazität beträgt 1 GWh über 24 Stunden.

Zeitreisender Anthony Westinghouse

So abgesichert reiste Westinghouse viele Male in die Zukunft, um die Entwicklung der Welt zu beobachten, leider oftmals mit erschreckenden Einsichten. Die Verwüstung der Erde durch Atomkriege schon im 30. Jahrhundert, die Lebensverhältnisse nach der Katastrophe ... Als erstes fiel mir rund um den Globus die geringe Bevölkerungszahl auf. Außerdem schien es keinen motorisierten Verkehr zu geben. Am Rande der Siedlungen gab es meist kleine Fabrikgebäude, in denen vermutlich synthetische Nahrung hergestellt wurde, denn kultivierte Ackerflächen sah ich nirgendwo. Alle großen Städte waren verlassen und verrottet. Einige vor Ort Inspektionen ergaben das Bild mannigfaltiger körperlicher Missbildungen. Die dezimierte Menschheit befand sich immer noch im Überlebenskampf ... , das Verschwinden des Mittelmeers nach einer Milliarde Jahre, die Vereisung der Erde nach vier Milliarden Jahren mit der einhergehenden totalen (jedoch temporären) Beendigung jeglichen Lebens auf der Erde, und schließlich der Weltuntergang nach 4,5 Milliarden Jahren.

Westinghouse ist der einzige Zeitreisende, der glaubhaft die Vorgänge schildert ... Die ganze Erde stand in Flammen. Ihre neue Farbe: scharlachrot. Selbst hier, in sicherer Entfernung, wurde mir ganz warm. Ein Blick zur Sonne überzeugte mich: ein riesiger weißer Feuerball stand da im Raum und wurde immer größer und zugleich unförmiger. Denn große Stücke brachen heraus und schossen in den Weltraum. Es war so hell, dass keine anderen Gestirne mehr zu erkennen waren. Nur den Mond konnte ich undeutlich sehen, in zwei Teile zerbrochen. Ein gigantisches Inferno! Das war der Weltuntergang und ich war mitten drin ... Doch damit nicht genug. Die pure Neugierde trieb Westinghouse zu einer letzten Zeitreise ins Jahr 1 (5 Milliarden Jahre), um nachzusehen, ob die Erde noch existiert ... Es war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Am schrecklichsten war die Dunkelheit (und die Kälte). Ich konnte die Sonne als winzig kleinen, schwach glimmenden Brocken erkennen. Der Planet Erde war in Myriaden von Gesteinsbrocken zerfallen, die nun wie Saturnringe um den kümmerlichen Rest der Sonne kreisten, die als weißer Zwerg immer noch eine gewaltige Anziehungskraft ausübte ...

Auch Westinghouse behält die Details seiner Zeitreise-Maschine für sich. Bis auf die Schilderung seiner Erlebnisse und Abenteuer gibt es keine Verlautbarungen zur Technik ... Selbstverständlich habe ich meine PPT-Zeitreisetechnik nicht patentieren lassen. Aus zwei Gründen: 1. Keine Zeit für die Ausarbeitung einer Anmeldung. 2. Zum Schutz der Zukunft vor ungebetenen Besuchern ...

Im Vergleich zu dem, was auf uns wartet, lebt es sich heute doch noch recht gut!

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Zeitreise
https://www.news.de/panorama/856777133/zeitreisender-mit-duesterer-prophezeiungen-fuer-2038-tiktok-nutzer-behauptet-dass-alienkrieg-den-weltuntergang-bringt/1/
https://www.news.de/panorama/856128768/zeitreisender-warnt-vor-bomben-angriff-auf-new-york-city-tiktok-user-aus-dem-jahr-2104-kuendigt-tnt-apokalypse-durch-china-an/1/
[0] http://p-domain.de/aufsaetze/die-zukunft.html
[1] Stanislaw Lem (1963): Der getreue Roboter / Die Forschungsreise des Professors Tarantoga
[2] Herbert George Wells (1895): Die Zeitmaschine
[3] Isaac Asimov (1955): Das Ende der Ewigkeit