Irreführung
13.8.2019
Viele Menschen sorgen sich um ihre Privatsphäre. Doch die Überwachungsmethoden, die viele Staaten, speziell die Diktaturen einsetzen, lassen ein privates Leben nicht zu. Ein Blick nach China verdeutlicht dies. Die 1,4 Milliarden Chinesen werden von 176 Millionen Kameras überwacht. In einigen Jahren werden es schon 600 Millionen sein.
Außerhalb der Wohnung werden die Chinesen auf Schritt und Tritt gefilmt. Die in China entwickelten Programme zur Gesichtserkennung, das heißt zur Identifikation einer Person, sind die fortschrittlichsten der Welt. So können die Überwacher an den Monitoren in Echtzeit die Nummern oder auch den Namen der Personen im Bild lesen. Zusammen mit den Daten aus anderen Quellen wie Aufzeichnungen aus den Betrieben, Vereinen, Schulen, Kindergärten, Einkaufszentren, Behörden, Internetforen, Krankenhäusern, Flughäfen, ergibt sich für jeden Chinesen ein Daten- und ein Bewegungsprofil. Der Überwachungsapparat kennt sämtliche Gewohnheiten und Beziehungen aller Chinesen. So wie Facebook weiß, wer mit wem kommuniziert, kennt der chinesische Staat den Alltag jedes Einzelnen. So kann er den Einzelnen auch schützen gegen potentielle Gewalttäter, die schon frühzeitig überführt werden (vor der Tat). Von ungläubigen deutschen Reportern befragt, sagte eine chinesische Hausfrau: "Mir ist meine Sicherheit wichtiger als meine Privatsphäre".
Grundlage dieses Überwachungssystems ist die allumfassende Datensammlung und Datenzusammenführung. Die Überwachung wird zu einem bedeutenden Exportartikel der chinesischen Staatswirtschaft. Da hinkt Deutschland noch weit hinterher.
Doch Überwachungskameras gibt es auch bei uns. Da wir noch nicht digitalisiert sind, ist es eventuell denkbar, dass die Passbilder in den Meldebehörden dementsprechend nicht biometrisch behandelt sind. Deshalb könnte es sein, dass ein von einer Überwachungskamera aufgenommenes Gesicht zwar vermessen, aber nicht der behördlich gemeldeten Person zugeordnet werden kann (auf chinesische Art).
Das wird sich ändern. Von daher ist es ratsam, an Tarnung zu denken. Da das Problem die Gesichtserkennung ist, geht es also um Gesichtstarnung. Die Möglichkeiten sind zahlreich, vom speziellen Makeup, über Teilbedeckungen, Behaarung, Infrarotstrahlern, bis zur Maske mit teilweiser oder gänzlicher Gesichtsabdeckung. Wohlbekannt sind die Gesichtsmasken der verschiedenen Faschings- und Karnevalsbräuchen. Es ist aber unüblich, im August als Schantle oder Hexe herumzulaufen. Die Tarnung muss möglichst unauffällig sein.
Zunächst jedoch einige Beispiele für Maskierungen:
Das ist Irene Holter-Baumgarten aus Gelsenkirchen. Sie lebt mit Sohn und Tochter und Mann in einem Häuschen im Grünen. Wenn sie in Stadt fährt, schmückt sie ihr Gesicht mit feiner Ornamentik. Sie sagt: "Wenn ich im Eventcenter in der Innenstadt Karten hole für das The Bullies - Konzert (Kinderpunkband) möchte ich natürlich nicht erkannt werden. Schließlich ist das doch was für Kinder." Leider ist der schöne Schmuck kein Hindernis für die Überwachung. Sie wird natürlich sofort als Irene Holter-Baumgarten erkannt.
Manche Frauen, hier Frauke Wohlleben, die nicht erkannt werden wollen, legen eine Aktivkohle-Maske an. Diese verfremdet das Gesicht zwar ein wenig, doch die Gesichtserkennung hat wenig Mühe, die wesentlichen Paramter zu extrahieren und Frauke innerhalb von 760 Millisekunden zu identifizieren.
Hier greift Sybille Hartig, Studentin in Marburg, zu drastischen Mitteln und verbirgt sich hinter einer Augenmaske. Doch ohne neue Frisur und immer noch lächelnd ist sie ein leichtes Opfer für die Überwachung, denn der Augenabstand und die Augenform haben sich nicht verändert durch die Maskierung.
Eine scheinbar sehr effektive Methode, sich zu verstecken, ist das Tragen der Vollverschleierung. Doch auch darauf sind die Erkennungsprogramme trainiert. immerhin sind die Augenparameter erfassbar. Hilfsgrößen wie Kopfform und -größe, Körpergröße und Gestalt sowie der schlurfende Gang weisen schnell auf Fatima Chednada hin, die hier in einem Einkaufszentrum gefilmt wurde.
Eine Maske, die den gesamten Kopf umhüllt, trägt hier Sirene Calibrié. Ihre schönen blonden Haare sind verschwunden, die Ohren etwas anders und die Augenbrauen nicht ihre. Das ist schon ein schwieriger Fall für die Überwachung. Mit Körpermaßen und diversen kontextuellen Parametern gelingt es jedoch in den meisten Fällen, solche Verkleidungen zu enttarnen.
Diese neutrale Maske bietet sich an für die kreative Tarnung. Farben und Schattierungen können aufgemalt werden. Nase und Mund sind verborgen. Nur die Augen sind verräterisch. Abstand und Position im Gesichtsfeld geben Hinweise. Außerdem wieder andere ergänzende Parameter, nicht zuletzt der Aufenthaltsort und die jeweilige Aktivität.
Bekannt wurde die Anonymous-Maske von den Demonstrationen gegen die Überwachung. Auch hier kommen die Erkennungsregeln für die schwierigen Fälle zur Anwendung. Knifflig ist der Umstand, dass der Mund nicht zu sehen ist und die Augen hinter den Sehschlitzen kaum zu erkennen sind. Tatsächlich versagt hier die Gesichtserkennung in den meisten Fällen.
All diese Tarnungen haben den Nachteil, dass sie in den meisten Fällen die eigene Identität nicht wirklich verbergen können. Deshalb startete Leonardo Selvaggio, interdisziplinärer Künstler, das URME (you are me) - Projekt. Seine These lautet: wenn es schon schwierig bis unmöglich ist, sich der Identifizierung zu entziehen, dann gib der Überwachung doch einfach mein Gesicht und damit meine Identität. Also produziert er Gesichtsmasken mit seinem Antlitz und verteilt sie unters Volk. Alle, die seine Maske tragen, sind nun geschützt, denn sie werden sofort als Leonardo Selvaggio erkannt, fälschlicherweise natürlich, und das ist gut so.
Der beste Schutz gegen die Überwachung ist also die Irreführung mit Hilfe einer falschen Identität. Hierbei stellt sich natürlich die Frage, was der Überwachungsapparat davon hält, wenn Leonardo gleichzeitig in Peking, Wuhan, und Shanghai gesehen wird. Natürlich wird der eine oder andere Leonardo festgenommen und verhört, und selbstverständlich wird das Spiel schnell durchschaut. (Im nicht digitalisierten Deutschland übrigens nicht, weil dort die Datenkoordination zu wünschen übrig lässt). Trotzdem sind 99% aller Leonardos sicher, weil nicht alle festgenommen werden können.
Der Ultimative Ratgeber rät deshalb, die Identität Leonardo Selvaggio immer und zu jeder Zeit zu verkörpern, denn Kameras sind überall.
Quellen:
https://www.nytimes.com/2019/07/30/magazine/how-to-thwart-facial-recognition.html
http://leoselvaggio.com/urmesurveillance
https://www.theverge.com/2014/5/7/5690880/urme-surveillance-mask-lets-wearers-avoid-identity-tracking
https://www.deutschlandfunk.de/china-mit-gesichtserkennung-in-richtung-massenueberwachung.1773.de.html?dram:article_id=415748
https://www.golem.de/news/ueberwachung-clownsmaske-besiegt-gesichtserkennung-1807-135304.html
Nachtrag 10.8.2020:
Wie wir gesehen haben, reicht es meist nicht aus, sich zu maskieren, um sich gegen die allgegenwärtige Überwachung zu schützen. Ein erfolgreicherer Weg ist, sich zu tarnen und als eine andere Person auszugeben, beispielsweise mit der Selvaggio-Maske.
Die Methoden der Staatsschnüffler gehen jedoch noch viel weiter. Die technischen Entwicklungen der letzten Jahre auf dem Gebiet der automatisierten Gesichtserkennung unterstützen sie. Aber auch die großen Software-Firmen nutzen Gesichtserkennungsprogramme. Facebook ermöglicht damit das schnelle Finden von "Freunden". Auch Amazon ("Rekognition"), Microsoft ("Azure Face API"), und Megvii Technology ("Face ++") analysieren Gesichter für verschiedene Zwecke.
Die Firma Clearview AI in New York City hat schon mehr als drei Milliarden Gesichter aus dem internet archiviert und reichert diese an, indem sie nach den Gesichter in den online Kontakt-Plattformen wie Facebook sucht und alle gefundenen persönlichen Daten zu den Bildern hinzufügt. So wächst das Personen-Archiv immer weiter, wenngleich es noch lange nicht die Größenordnung der chinesischen Datenbanken erreicht.
An der digitalen Gegenwehr arbeitet das SAND Labor der Universität von Chicago. Es entwickelte das Programm "Fawkes" mit dem Ziel "Protecting Personal Privacy against Unauthorized Deep Learning Models". Es kann Bilder auf Pixelebene so verfälschen, dass sie nicht mehr mit den Originalen in Verbindung gebracht werden, speziell nicht von den Bild- bzw. Gesichtserkennungsprogrammen. Die Bildveränderungen sind so subtil, dass sie vom menschlichen Auge nicht erkannt werden. "At a high level, Fawkes takes your personal images and makes tiny, pixel-level changes that are invisible to the human eye, in a process we call image cloaking".
Gesichtserkennunsprogramme erstellen typischerweise ein Modell des analysierten Gesichts, mit dem alle weiteren Gesichtsphotos der betreffenden Person erkannt und dieser Person zugeordnet werden. Das ist jedoch mit den veränderten (cloaked) Bildern nicht mehr möglich. Damit versagen die Erkennungsprogramme wie die von Clearview AI und andere.
Das SAND Labor bietet Fawkes zum Download an, so dass jeder seine Bilder verändern kann, bevor er sie ins Internet hochlädt. Doch es gibt Skeptiker, die sagen, dass schon zu viele persönliche Bilder im Internet sind, und dass es gar nicht mehr möglich ist, diese unkenntlich zu machen, denn sie sind schon alle von Clearview erfasst und zu Modellen (Templates) verarbeitet worden.
Fawkes kann eine Breitenwirkung nur entfalten, wenn die online-Kontakt-Plattformen selbst dessen Verhüllungstechnik anbieten würden. In diesem Sinne ist einer der Schöpfer von Fawkes derzeit in Gesprächen mit Facebook.
Quellen:
https://www.nytimes.com/2020/08/03/technology/fawkes-tool-protects-photos-from-facial-recognition.html
http://sandlab.cs.uchicago.edu/fawkes/
https://sandlab.cs.uchicago.edu
https://clearview.ai